Lang ist’s her, mein letztes Zeitfahren. „Grabener Höhe“. Muss man nicht kennen. 10 km kurz, sehr schön und mit 228 Höhenmetern durchaus anspruchsvoll. Trotzdem eben nur 10 km und kein reines Bergzeitfahren. Das Zeitfahren hier und heute am Attersee ist ein anderes Kaliber. Einmal rund um den ganzen See. Abkürzen ist also auch theoretisch keine Option 😉 Offizielle Eckdaten laut Veranstalter: 47,4 Kilometer! Und diese sind mit den angegebenen ca. 250 Höhenmetern auch nicht gerade topfeben!
Ganz grob zur Strecke am Attersee: Die ersten 20 km bis kurz hinter Weißenbach sind tatsächlich flach. Dann kommen noch vor dem Wendepunkt bei Unterach zwei eigentlich harmlose Buckel. Wobei das Wort „harmlos“ bei einem Zeitfahren nicht angebracht ist, denn schließlich ist es ja nicht Sinn der Sache nur den Buckel hochzukommen. Ziel ist es, den Rhythmus und damit auch die Geschwindigkeit oben zu halten. Ab Unterach wechselt das Profil dann stark und wird recht hügelig. Der Anstieg bei Unterach kostet Kraft und damit werden die folgenden kleinen Anstiege schwerer als man vielleicht vorher denkt. Vor allem die fiesen Kuppen bei Parschallen und Nußdorf ziehen in dieser Phase des Rennenens Kraft aus den Beinen. 5 km vor dem Ziel kommt dann noch ein kurzer aber gemeiner 14 % Stich bei Buchberg.
Na dann: los geht’s!
Mein bisher längstes Zeitfahren 40 km bei der Jedermann Variante der Deutschland-Tour 2006 in Bad Säckingen. Da war ich aber noch 10 Jahre frischer. Naja, vielleicht hilft ja die hinzugewonnene Erfahrung. Punkt 15:30 Uhr stehe ich auf der Startrampe. Mühelos klicke ich in die Pedale ein, während das Rad wie von Geisterhand ganz alleine die Balance hält. Also genauer gesagt ist es keine Geisterhand. Und von alleine geht auch nichts. Es ist der Helfer, der mein Rad hinten am Sattel hält. Fünf, vier, drei… Ein super Gefühl, wenn da jemand vor dir auf der Rampe mit den Fingern den Count-Down runterzählt. Genau wie man es von Ich den Profis kennt! Zudem ist die Streck um den See während des Rennens voll gesperrt. Rennradlers Traum! Zwei… Ich bin gesund. Ich fühle mich fit. Es ist Kaiserwetter (oder Kini-Wetter 🙂 Der Attersee glitzert in der Herbstsonne. Die traumhafte Kulisse wird komplettiert durch die Berge rundherum. Fast zu schön um echt zu sein. Ich bin motiviert bis in die Haarspitzen. Eins… ach ja: mein Outfit: Mercier Hutchinson Trikot. Meine Hommage an Raymond Poulidor. LOS!
Mit Kette rechts rolle ich von der Rampe, nehme Fahrt auf. Tief gebeugt in Unterlenkerhaltung schnellt meine digitale Tachonadel nach oben. Wo liegt meine Zielvorgabe? Was will ich erreichen? Erst mal gilt wie immer: kein Sturz, keine Panne. Was dann machbar ist werden wir sehen. Aber mal angenommen ich stürze nicht und habe auch keine Panne. Was könnte denn dann machbar sein? Schwer zu sagen. Wenn ich so für mich trainiere gurke ich eher lahm herum. Klar, ab und zu ein Sprint über ein paar Kilometer geht immer. Aber über 30 km/h im Schnitt komme ich dann am Ende gesamten Tour doch nie. Und hier am Attersee? Fast 50 Kilometer, ohne Windschatten. Was kann ich da erwarten? Die ersten Kilometer bei so einem Rennen kann etwas Kopfrechnen nicht schaden. Und so rechne ich. Also wenn ich so um 32 km/h im Schnitt schaffe, dann wäre eine Zeit von unter 1 h 30 min drin. Klingt gut als Ziel, denke ich mir, während ich weiter in Unterlenkerhaltung verharre. Apropos „Unterlenkerhaltung“. Zeitfahren und Unterlenkerhaltung passt in der heutigen Zeit der Zeitfahrboliden und Zeitfahraufsätze eigentlich nicht mehr ganz zusammen. Beim „King of the Lake“ passt das allerdings sehr gut zusammen. Beim „King of the Lake“ gibt es nämlich zwei grundsätzliche Wertungen. Eine Wertung für die Spezialisten mit Zeitfahrrädern, Auflagen und Scheibenrädern. Und dann gibt es eben noch die Klasse für die „Normalos“ wie mich. Aber davon gibt es eine ganze Menge. Leute, die alle Jahre mal wieder gerne ein Zeitfahren machen. Leute, die dann eben nicht mal eben so 10‘000 Euro und mehr für eine Spezialmaschine investieren wollen, die dann eh die meiste Zeit im Keller steht. Ich fahre also gerne mit den Normalos. Obwohl so eine Zeitfahrmaschine schon toll wäre. Solange bewundere ich die Raketenmänner auf den futuristischen Maschinen, die am Anfang noch an mir vorbeirauschen und mich wohl wie einen Fahrer in Zeitlupe erscheinen lassen. Aber so richtig viele überholen mich jetzt auch nicht.
Von der eingangs erwähnten, malerischen Kulisse bekomme ich ungefähr 5 Minuten nach dem Start nichts mehr mit. Ich bin jetzt in meinem inneren Tunnel. Mein Blick ist auf die Straße, die Daten auf dem kleinen Radcomputer, aber vor allem nach innen gerichtet. Gleich ob Marathon, Kriterium oder Zeitfahren: beim Rennen ist für mich der Blick nach innen wichtiger als die Daten auf dem Radcomputer. Stimmt mein Rhythmus? Soll ich was trinken oder essen? Schneller? Langsamer? Haltung auf dem Rad ändern? Im Moment sagt mir mein innerer Check, dass alles im grünen Bereich läuft. Auch nach über 20 km Weißenbach. Wo, hinter welcher Ecke lauert hier mein Einbruch? Oder lauert er überhaupt?
Apropos „essen“: das ist für mich ohnehin obsolet. Ich hasse dieses Gelzeug. Riegel sind OK. Aber ich habe im Rennmodus noch keinen ausprobiert. Es kann absolut verhängnisvoll sein, neue Sachen im Rennen auszuprobieren. In der Stunde vor dem Start habe ich außerdem 3 Stück Kuchen verdrückt, mit dem Ziel während des Rennens nichts essen zu müssen. Kuchen vertrage ich super-gut. Die Strategie funktioniert bei mir auf solchen Distanzen eigentlich sonst ganz gut. Und der Schachzug geht scheinbar auch voll auf. Energieriegel? Wer braucht den sowas bei 47 km Distanz?
Langsam nähere ich mich dem Wendepunkt der Strecke bei Unterach. Plötzlich im schattigsten Teil der Strecke ereilt mich eine echte Schrecksekunde. Ein kurzer, aber harter Schlag schüttelt mich durch. Mist! Nicht aufgepasst! War’s das jetzt? Sekunden später: Gott sein Dank kein Durchschlag, kein Platten! Die nächsten Tritte nach dem Schlag nehme ich trotzdem noch jede Bewegung, jedes Ruckeln und Knacken am Rad mit 10-facher Empfindlichkeit wahr. Dann schließlich entspanne ich mich wieder und kehre zu meinem vorherigen Rhythmus zurück. Nichts passiert!
Und während ich da also so rechne, sinniere und bange, erreiche ich den Anstieg am Wendepunkt bei Unterach am Attersee auf ca. halber Strecke. Kilometer 24. Ich traue meinen Augen nicht: 38 Minuten. Hallo, was ist denn hier los. Allerdings pendelte die Anzeige schon seit dem Start um die 40 km/h herum. Im Moment liege ich auf fast 38 km/h. Mann, bin ich hier voll gut drauf oder was? Oder habe ich voll überzockt und breche jetzt auf der zweiten Streckenhälfte voll ein?
Minuten später ist es dann aber mit dem bisher so tollen Rhythmus und dem Geschwindigkeitsrausch erst einmal vorbei. Der ca. 50 Meter hohe Hügel passt so überhaupt nicht zum bisher ach so flachen Profil. Absolut kein Alpengigant, aber eben 2 Kilometer Anstieg am Stück mit maximal 7 %. Ich kämpfe. Kämpfe, damit die Geschwindigkeit nicht unter 20 km/h sinkt. Ein oder zweimal muss ich aus dem Sattel gehen um den Fluß der Geschwindigkeit nicht vollends versiegen zu lassen. Ich verliere diese Schlacht. Auf 18 km/h sinkt meine Geschwindigkeit kurzzeitig ab. Nicht gerade ruhmreich für ein Zeitfahren. Aber machen wir uns nichts vor: ich habe einen normalen Alurenner (das Carbonteil steht daheim, es passt nicht zum Poulidor-Trikot 🙂 mit 3-fach Blatt, einen Brooks Ledersattel (super schön, ich liebe das Teil) und meinen popeligen normalen Rennradhelm auf dem Kopf (nicht so einen super-stylischen, windschlüpfrigen Tropfen). Auch die Überschuhe habe ich mir gespart. Ich freue mich zwar sehr über das Starter-Geschenk vom Veranstalter und werde es auch zukünftig benutzen. Aber hier und jetzt hätte es nicht gepasst. Stattdessen beobachte ich also voller Begeisterung während der Fahrt die unsichtbaren Luft Verwirbelungen an den Klettverschlüssen meiner Schuhe, die mich wahrscheinlich um sagenhafte 0.05 km/h abbremsen. Pfeif auf das Team Sky und die „marginalen Gewinne“ an diesem Tag. Der Anspruch des Equipments muss zur Stärke des Fahrers passen. Heute bringen marginale Gewinne nichts. Ich will lieber selber wissen wo ich stehe. Vor allem nerve ich mich schon manchmal am Perfektionismus mancher Leute. Mancher schiebt eine schlechte Zeit gerne auf sein Equipment. Das Equipment kann sich ja schließlich verbal nicht wehren… Also solange ich keine Panne habe bin ich erst einmal in gewissem Rahmen selbst für meine Leistung verantwortlich. Da knalle ich mir dann auch gerne noch zwei Trinkflaschen mit 1,5 Liter ans Rad. Prost! Erst wenn ich vorne in den Top 20 oder so mitfahren könnte, dann könnte ich mir über Details wie Flaschenhalter aus Carbon Gedanken machen.
Kurze Zeit später bin auch ich wieder obenauf. Wo es raufgeht geht es meist nämlich auch wieder runter. Das gilt auf jeden Fall bei einer Runde um einen See. Knapp 60 km/h trete ich locker flockig in der anschließenden Abfahrt und erhole mich dabei prächtig. Im Schnitt werde ich jetzt etwas langsamer, aber das ist einerseits der hügeligeren zweiten Streckenhälfte und andererseits dem etwas hohen Anfangstempo geschuldet. Dass meine Einteilung für das Rennen trotzdem richtig war, daran hege nach Kilometer 30 aber keinen Zweifel mehr. Ich fühle mich immer noch frisch. Mittlerweile habe ich sogar die ersten Fahrer, die irgendwann vor mir gestartet sind überholt. Klar hämmert noch einmal so ein Scheibenrad-Teil an mir vorbei. Aber das ist eine andere Klasse. Das kann mich nicht wirklich jucken. Im Wendepunkt des Anstiegs nach Parschallen kämpfe ich noch einmal erfolglos eine Schlacht mit der 20 km/h Schallmauer. 16 km/h im Minimum bei 8 % Steigung. Aber dann schließlich am Anstieg in Nußdorf wendet sich das Blatt! Wieder 8 % Steigung, aber diesmal drücke ich durch und habe auch noch die Kraft dazu. Ganz kurz 21 km/h. Aber wirklich nur ganz kurz. Und in Buchberg fällt meiner Geschwindigkeit zwar wieder über wenige Sekunden auf 18 km/h, aber dass nur im steilsten Stück bei einem echten Hammer von 14 % Steigung nach über 42 km. Ich habe jetzt das Gefühl das Rad fährt von alleine. Ich trete zwar noch, aber es strengt nicht mehr an. Ein absolut geiles Gefühl. Noch einmal höchste Konzentration an der Rechtskurve vor der Agerbrücker. Ja nicht auf die linke Fahrbahn kommen, sonst war’s das vielleicht. Trotz der voll gesperrten Straßen herrscht während des gesamten Rennens Rechtsfahrgebot. Und dann schließlich ist es geschafft. Zeit: 1:19:26, Schnitt: 35,8 km.
12:03 hinter dem Sieger meiner Altersklasse und 18:30 hinter dem besten Nicht-Elite Fahrer. An Profi Riccardo Zoidl vom Team Trek-Segafredo komme ich wohl Zeit meines Lebens nicht mehr heran. Er wurde Sieger in der Eliteklasse mit einer Wahnsinnszeit von 57:05 und 49,8 km/h. Muss man sich mal vorstellen: wäre ich 20 Minuten vor dem gestartet, dann hätte er mich immer noch überholt!
Auch der sympathische Steirer und Extremsportler Christoph Strasser, 24h-Zeitfahrweltmeister, mehrfacher Race Across America Sieger und Race Around Austria Sieger, ist beim King of the Lake mit von der Partie. Dem hätte ich gerne noch persönlich die Hand geschüttelt und „Servus“ gesagt. Irgendwie habe ich ihn dann aber verpasst. Ich hatte 2008 die wohl einmalige Gelegenheit mit Christoph eine Woche ein Etappenrennen zu fahren. Seit der Zeit ist Christoph Strasser für mich ein sportliches und menschliches Vorbild. Was er seit 2008 alles geschafft hat, spricht für sich. Und dass er bei bei King of the Lake dann aber auch mit dabei ist zeigt, dass man auch im Erfolg noch bodenständig sein kann. Weiter so Christoph!
Ein kurzes „Selbst-Interview“ zum Schluß 🙂
Frage: Bin ich mit der Zeit und dem Rennen am Ende zufrieden?
Antwort: Hätte man mich vorher gefragt, ob ich mir vorstellen könne in der Form einen 35er Schnitt auf die lange Distanz zu fahren, dann hätte ich wohl wohl gelacht und gesagt „Bist deppert?“ 😉
Frage: Wie ist meine Meinung zur Organisation dieses Rennens?
Antwort: Die Organisation dieser Veranstaltung als „perfekt“ zu bezeichnen wäre eine leichte Untertreibung. Klar: für das geniale Wetter kann der Veranstalter nichts. Aber, man muß halt auch mal Glück haben. Und bei so viel Engagement und Fleiß, die offensichtlich in diese Veranstaltung geflossen sind, haben sich die die Veranstalter und alle Mithelfer dieses Glück auch redlich verdient.
Hier stimmte aber auch einfach absolut alles: Angefangen von den Parkmöglichkeiten, über die Startnummernausgabe, die Bewirtung und Stimmung im Zelt, die Sponsorenstände. Dass man es dann auch noch geschafft hat, die Strecke um den See für das Rennen voll zu sperren ist wirklich der Hammer und macht diese Veranstaltung im Moment weit und breit einzigartig. Ein ganz persönlicher Dank von meiner Seite geht noch an alle, die seitens des Veranstalters am Kuchenbuffet mitgebacken haben: Liebe Damen und Herren: Euer Anteil an meiner Durchschnittsgeschwindigkeit könnte bis zu 5 km/h betragen… ich bin noch am auswerten 😀
Frage: Was nehme ich sonst noch mit von dem Tag?
Antwort: Eine ganz tolle Atmosphäre. Ich habe wieder einmal ganz tolle und nette Menschen kennengelernt. Das macht den Sport und solche Veranstaltungen eben auch aus. Ganz bewußt habe ich an dem Tag mal die Kamera nicht mit mir herumgeschleppt und ständig Fotos gemacht. Stattdessen habe ich einfach den Tag und das Rennen genossen, die Stimmung aufgesaugt und mich mit tollen Leuten unterhalten. So ein Tag bleibt hängen…
In dem Sinne Servus, Kette rechts und bis zum nächsten Rennen
Radl-Kini
Zusammenfassung
Streckenlänge: ca. 47,2 km
Höhendifferenz (Aufstieg): ca. 266 m
Durchschnittsgeschwindigkeit: ca. 35,8 km/h (in Bewegung)
Strecke
herunterladen: Rechtsklick auf „Download“ unten und „Ziel speichern unter…“
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Und dann hier noch mehr Daten (wen es interessiert):
P.S. keine Ahnung was der Garmin hier wieder verbrochen hat: Es gibt einen Unterschied von fast einer Minute zwischen der Gesamtzeit und der Zeit in Bewegung. Ich bin mir sicher ich war die ganze Zeit VOLL in Bewegung 🙂 Die offizielle Zeit laut Ergebnisliste ist wie gesagt 1:19:25,64 / 35,8 km/h.