Ich befinde mich in einem wunderschönen Stück Bergwald und schiebe mein Rennrad über eine Betonpiste eine steile Rampe hinauf. Nicht etwa fluchend tue ich das. Ich schiebe im Schongang. Zum Fluchen habe ich keine Energie übrig. Ehrlich gesagt bin ich mir auch nicht 100%ig sicher, ob das Waldstück wirklich wunderschön ist…
Irgendwie gehen einem nämlich die Adjektive aus, wenn man am Limit ist. Bei einem bin ich mir aber absolut sicher. Nämlich wie steil genau besagte Betonpiste ist, auf der ich mich hier gerade befinde. ABARTIG steil! Ich habe Fußgänger im Rennradsport bisher immer etwas milde belächelt. Rennradfahren, und das insbesondere als Rennsport, ist keine Wanderveranstaltung. Schon allein das Schuhwerk ist völlig ungeeignet zum Wandern. Es heißt völlig zu Recht RadrennFAHREN und nicht RadrennGEHEN. Aber hier und jetzt im obersten Teil dieses oberfiesen Passes mit gerade einmal 1700 Höhenmetern auf Passhöhe verabschiede ich mich ehrfürchtig von meiner bisherigen Einstellung, denn: ich schiebe! Und der Pass, den ich hochschiebe heißt MORTIROLO. Den muss man nicht, aber man darf ihn schon einmal ein kleines Stück hochschieben.
Berühmt und berüchtigt ist der Mortirolo in Rennradlerkreisen seit je her. Jeder echte Radsportfan kenn ihn vom Giro d’Italia, seit dieser hier regelmäßig vorbeikommt. Es gibt für die Auffahrt einige Varianten. Am besten kann man das bei quaeldich.de nachlesen. Die Variante, die hier gefahren wird, ist der Anstieg von Tovo di Sant’Agata. In dem Zusammenhang fällt zumindest im Rahmen der Beschreibung von quaeldich.de einmal der Begriff „Horror pur“. Aber wie steil dieser Horror wirklich ist, dass kann man eben erst dann sagen, wenn man es selbst gefahren ist … oder eben geschoben hat 😉 Immerhin befinde ich mich in guter Gesellschaft. Fast alle Teilnehmer schieben hier im oberen Teil. Nur die besten Fahrer, die leichteste Fahrer oder die Fahrer mit der am cleversten gewählten Übersetzung treten hier noch hoch. Schon vor dem Rennen war klar: der Beste und der Leichteste bin ich sicher nicht. Leider habe ich auch die Übersetzung heute nicht clever gewählt. Klar: vorne fahre ich dreifach Aber das Ritzelpaket ist völlig falsch. Hinten ist mein größtes Ritzel ein 26er. Fast alle um mich herum fahren nur 2-fach, wären also in der Hinsicht klar im Nachteil Aber was bei meinen Mitstreitern dann teilweise hinten als größtes Ritzel drauf ist, kommt eher aus der Ultra-Mountainbike Szene: 32er Ritzel dominieren das Bild. Man kann das rechnerisch sicherlich zerlegen und totdiskutieren, aber ich denke, dass ich kompakt mit 32er Ritzel auch besser gefahren wäre. Alleine aber auch schon 28 er hinten hätte gereicht um nicht auf Stufe der Fußgänger degradiert zu werden. Wie man es auch dreht und wendet: ich schiebe. Aber auch die mit dem 32er Rettungsring schieben zu Hauf. Die Schiebepassage ist glücklicherweise nur ein paar hundert Meter lang. Aber trotzdem irgendwie deprimierend. Gehöre ich jetzt schon zum alten Eisen?
Aber springen wir doch erst einmal an den Anfang des Geschehens. Startzeit 7 Uhr Bormio Downtown. Ich stehe in einer unfassbaren Menge von Menschen und Hightech-Rennmaschinen. Es gibt sicherlich größere Veranstaltungen, aber ein Start in einem Feld mit knapp 3000 Teilnehmern ist schon extrem beeindruckend.
Dazu kommen nun am diesen Tag auch noch äußere Traumbedingungen. Habe ich bisher in diesem Jahr am Start jeweils gefroren, so ist das hier Rennradlers-Himmel am Start. Die Sonne ist bereits aufgegangen. Kein Wölkchen weit und breit und es ist schon angenehm warm. Alles deutet auf einen heißen Tag hin. Was will man bei einem Marathon, der auf fast 3000 Metern über dem Meer endet mehr? Am Start wird diskutiert, gelacht und geselfiet. Es herrscht ein Sprachen-Wirrwarr um mich. Ich glaube Italienisch und Englisch dominieren. Countdown für den ersten Startblock: 3, 2, 1… los! Fünf Minuten später setzt sich auch die Masse meines Startblocks langsam in Bewegung. Kilck, Klick, Klack, Klick…Hunderte von Schuhen haken geräuschvoll in die Pedale ein: La Musica Cyclista. Bereits wenige Minuten nach dem Start rase ich inmitten des Feldes gen Richtung Tirano. Das konstant leichte Gefälle der breiten Straße bildet die Grundlage für einen unvergleichlich langen Rausch der Geschwindigkeit. Und das geht natürlich auch nur deshalb, weil die Straße vom Veranstalter super gesichert ist und keine Autos unterwegs sind. Die Straße ist zu diesem frühen Zeitpunkt sogar noch komplett für den Autoverkehr gesperrt. Und so läuft es fast 50 Kilometer auf Hochtouren
Ich komme also zum Teglio. Ein „Pixel-Fehler“ im Höhenprofil? Beim Blick auf das Streckenprofil habe ich mich gestern noch gefragt „Ist der kleine Hügel wirklich der Rede wert? Muss ich da überhaupt runterschalten?“ Also das war denn wohl ein klarer Fall von Überheblichkeit! Um die beiden Fragen ganz klar zu beantworten: Ja der „Hügel“ ist der Rede wert und ja, man muss runterschalten. Ganz gewiss sogar. Ein scharfer Knick der Straße nach rechts in beendet die bis dato angenehme Fahrt ziemlich unsanft. Die Zeitnahme etwas weiter unten ließ noch nichts derart Schlimmes erahnen. Aber hier und jetzt geht‘ zur Sache. Und zwar ordentlich. Bereits nach wenigen 100 Metern Anstieg gehen den ersten Fahrern die Ritzel aus: Fortsetzung folgt zu Fuß. Der Kies auf der Straße tut sein Übriges und bei knapp 15% rutschen direkt vor mir einige Leute zur Seite und steigen fluchend, entkräftet und frustriert ab. Das Ausweichmanöver auf der nur 2 bis 3 Meter breiten Straße erfordert akrobatische Höchstleitung. Auch ich muss bereits hier unerwartet an mein Limit gehen, um das Rennen im Sattel und fahrenderweise fortzusetzen. „Fussgängertum“ beim Radrennen war mir bisher fremd und so sollte es auch bleiben… Aber dieser Teglio ist im Mittelteil schon wirklich sacksteil! Endlich ist es geschafft. Ich passiere die erste der drei Zeitnahmen für die drei Anstiege Teglio, Mortirolo und Stelvio. Die zusätzliche Zeitnahme an den Anstiegen ist mir persönlich aber ehrlich gesagt egal. Durchkommen und gut abschneiden ist meine Devise. Für den Teglio bin ich mit meiner Leistung zufrieden, auch wenn ich den wirklich unterschätzt habe. Die Verpflegungsstelle oben spare ich mir. Dort herrscht noch mehr Gedränge als am Anstieg. Ich ziehe mir kurz einen Apfel aus der Trikottasche rein und stürze mich im nächsten Augenblick wieder Richtung Tal. Kurzer Blick nach rechts unten: Faszinierender! Wie aus der Vogelperspektive. Aber für mehr Sightseeing ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Unten angekommen geht es über die den Fluß Adda bei Treseda sofort in den nächsten kleinen Anstieg Richtung Motta. Aber dieser ist mit seinen etwas mehr als 200 Höhenmetern ist im Vergleich zum Teglio einfach und macht mir wieder Mut. Es läuft. Nach einer kurzen Abfahrt geht es weiter entlang der Adda parallel zur Strecke beim Hinweg. Der Anstieg wieder hinauf Richtung Bormio ist hier im unteren Teil ist weniger schlimm als befürchtet. Fast schon entspannt geht es den Fluß entlang. So entspannend, dass man fast meinen könnte auf der falschen Route zu sein. Der Radweg auf der linken Seite stromaufwärts nach Tirano ist wirklich sehr malerisch und steigt kaum merklich an. Aber obwohl ich ganz gut dahin rolle, so taufrisch fühle ich mich schon nicht mehr. Und das Gefühl zu diesem frühen Zeitpunkt des Rennens sollte doch etwas besser sein. Die beiden Hammeranstiege kommen ja erst noch. Nun ja, leicht bedenklich, aber kein Grund zu Beunruhigung.
Bei Lovero überquert die Rennstrecke die Adda wieder. Gleich ist Tovo di Sant’Agata erreicht und es wird ernst. Die Verpflegungstelle bei Tovo di Sant’Agata direkt vor der Abzweigung zum Mortirolo wurde bereits in der Abfahrt passiert. Sie liegt punktgenau vor der Abzweigung zum Mortirolo und das ist wohl sinnvoll so. Obwohl sich das Fahrerfeld mittlerweile sehr zerstreut hat, geht es wieder sehr trubelig zu. Knapp 3000 Fahrer zerstreuen sich halt dann doch nicht so schnell. Ich greife zu, denn das Büffet ist lecker: es gibt jede Menge Obst, Wurst- und Käsesemmeln, Kuchenstücke und Energieriegel, Aber vor allem Mineralwasser, Isodrink und Cola finden reißenden Absatz, denn es wird langsam hefig warm um es mal harmlos zu beschreiben. Ob heiß oder kalt, mir persönlich fehlt an solchen Verpflegungsstellen immer der Espresso und in Italien würde ich den erst recht erwarten 🙂 Und natürlich fehlen mir wie immer die Äpfel. Also im Vercors und in Belgien konnte ich das ja noch verstehen, aber hier bildet sich ein großes Fragezeichen in mir, denn ich sehe keine Orangenbäume oder Bananenpalmen am Wegrand. Dafür sehe ich abertausende von Apfelbäumen. Gebt mir sofort einen Apfel! Aber egal, das Thema hatte ich ja schon früher im Detail beklagt… Ich greife dankbar zu und lasse es mir schmecken, denn vor dem was jetzt gleich kommt habe ich großen Respekt. Ich kenne den Mortirolo nicht, aber jeder redet nur sehr ehrfürchtig oder angsteinflößend von diesem Anstieg.
Wie dieser Monsteranstieg endet, davon habe ich ja schon eingangs einen kurzen Eindruck gegeben. Der Einstieg zum Mortirolo von dieser Seite ist ja noch OK. Auch schon sehr steil, aber eben noch gut machbar. Leider ist besagter Einstieg sehr kurz. Zu kurz für mich! Unmittelbar nach Beginn der Zeitnahme lautet die Ansage auf einem Schild am Fuß des Berges „11 km zum Gipfel und im Mittel 11 %. Im Mittel. Mama Mia! Da sollte man ja schon leichte Bedenken haben. Mal überlegen: Wann und zu welcher Gelegenheit habe ich bisher in meiner „Karriere“ einen Berg bezwungen, der über 11 Kilometer im Mittel 11 % Steigung hatte. Niemals! Mein kleinster Gang am Rad ist schnell eingestellt. Bereits nach einem Kilometer ist der sonst übliche Rettungsring verbraucht. Und meinen Rettungsring brauche ich sonst eigentlich fast nie! Die Kuchenstücke, die ich mir unten an der Verpflegungsstelle reingezogen habe verpuffen so schnell, dass ich es fast spüren kann. Himmel, ist das ein Berg! Das einzig wirklich „angenehme“ an diesem Anstieg ist die Tatsache, dass die Straße fast ausschließlich durch den schattigen Wald führt. Und nachdem die Sonne mittlerweile schon ganz schön einheizt, wäre diese Anstrengung ohne Schatten nur schwer zu ertragen. Reicht auch so schon…
Während ich versuche meine Schweißtropfen zu kontrollieren, rollt mir ein Teilnehmer vorsichtig entgegen. Ein Geisterfahrer? Will der sich drücken? Nein, nicht wirklich. Die rechte Hand hat er an der Bremse, in der linken Hand hält er seine gerissene Fahrradkette. Pech gehabt, das war’s wohl. Bei der Steigung ist so ein Malheur nicht auszuschließen denke ich… und bete gleichzeitig, dass meine Kette halten möge. Es sei vorweggenommen: sie tut es mirzuliebe.
Bereits 3 Kilometer nach dem Beginn des Anstiegs schieben die Ersten. Ich weigere mich standhaft und noch geht es auch einigermaßen. Jungs, das ist viel zu früh zu Schieben. Zu Fuß dauert das ja noch ewig! Es sind noch 8 Kilometer! Klar, ich schleiche im Moment auch nur so dahin. Aber zu Fuß, und mit den tollen Spezial-Wanderschuhen die jeder Rennradler so trägt ?, kommt man sich erst recht vor wie eine Schnecke. Im unteren Teil ist der Mortirolo von dieser Seite her wie gesagt gar nicht so schlecht. Zwar schon unglaublich steil, aber der Asphalt ist gut in Schuss. Aber dann!!! Irgendwann ist den Straßenarbeitern hier leider das richtige Material ausgegangen. Und weil scheinbar noch genug Beton übrig war, haben sie kurzerhand im oberen Teil einfach nur noch Beton auf die Straße gekippt. Dazu dann noch ein paar 10 cm breite Eisenrillen quer über die Straße einbetonieren und fertig ist des Rennradlers Horror-Straßenbelag! Ja, fertig ist das schon, aber als Straße kann man das jetzt nicht mehr bezeichnen. Eher als besseren Maultierpfad mit durchschnittlich 15- 20 % Steigung. Bei aller heroischen Herausforderung: ob man diesen Pass von dieser Seite wirklich in ein Radrennen integrieren sollte ist mehr als fraglich. Nicht falsch verstehen: ich finde der Mortirolo ist wirklich ein wunderschöner Pass… aber vielleicht eher für Mountainbikes oder für Wanderer (mit den richtigen Schuhen 🙂
Das absolute Highlight am heutigen Tag im Anstieg ist aber weder die schleichende Karawane der Radler, noch die mörderische Betonpiste mit ihren unmenschlichen 20 %. Nein, das unangefochtene Highlight ist eine Szene der anderen Art. Skurril und zum amüsant zugleich. Die Situation: Ich befinde mich ungefähr bei Kilometer 5 des Anstiegs, als plötzlich ein Telefon irgendwo im Wald bimmelt. Mein Telefon ist es nicht und ich würde auch nicht im Traum daran denken hier und jetzt abzuheben. Mein Puls ist bei 150 bis 160 und alle anderen um mich herum quälen sich ebenfalls den Berg hoch. Aber es das Telefon klingelt weiter. Rangehen muss man jetzt nicht unbedingt. Das Letzte, was ich erwartet hätte, ist, dass da jetzt jemand rangeht. Aber genau das passiert! „Pronto“ höre ich einen Fahrer vor mir sagen. Der Typ hatte mich gerade noch überholt. Das kann jetzt wohl nicht wahr sein – oder? Er faselt etwas auf Italienisch und weil ihn sein Gegenüber wohl nicht so richtig versteht, wiederholt er mit zunehmend genervten und kurzatmigen Ton immer wieder das Wort „Mortirolo“ in sein Telefon. Offensichtlich will er seinem Gegenüber zu verstehen geben, dass der Anruf gerade ungelegen kommt. Das kommt aber auf der Gegenseite scheinbar immer noch nicht richtig an. Auf jeden Fall bellt der Fahrer immer lauter das Wort „Mortirolo“ in den Hörer, während ich ihn bereits längst wieder überholt habe. Also ich bin mittlerweile eine Kehre über ihm und höre ihn klar und deutlich. Nicht gerade der ideale Zeitpunkt für ein Telefonat. Kurze Zeit später brüllt der Mann dann quasi das Wort „Mortirolo“ durch den Wald, beendet das Gespräch und überholt mich wieder. Immerhin: Eichhörnchen und Rehe in der näheren Umgebung wissen jetzt sicher auch, dass sie am Mortirolo wohnen. Eine kurze, abschließende Frage sei erlaubt: Warum muss man in der Situation für ein so sinnloses Gespräch ans Telefon gehen? Muss man beim Radfahren überhaupt ans Telefon gehen??
1,5 Stunden für gerade einmal 11 km, das ist traurig! Als ich nach circa eineinhalb Stunden oben an der Passhöhe ankomme, bin ich mir absolut sicher, dass ich das Schlimmste an diesem Tag überstanden habe. Klar, der Gipfel des Stilfser Joch überragt diesen giftigen Alpenzwerg noch einmal um zusätzliche 1000 Höhenmeter. Aber im Vergleich zum Mortirolo kann das Stilfser Joch nur noch ein zahnloses Monster sein. Hinzu kommt, dass ich am Vortag des Rennens bereits den Gavia erklommen habe. Der Gaviapass ist fast genauso hoch wie das Stilfser Joch und war gestern gut fahrbar. Diese großen Alpenpässe haben nämlich oft eines gemeinsam: sie sind für den „normalen“ Straßenverkehr gemacht. Und in dieser Hinsicht ist ihr Profil ganz anders als das des Mortirolo. Pässe wie der Gavia und das Stilfser Joch sind zwar hart, aber sie sind „fahrbar“. Es ist auch ihr Zweck fahrbar zu sein. Soweit die Theorie. In der Praxis wir sich aber später eine Binsenweisheit herausstellen: es kommt erstens anders und zweitens als man denkt.
Aber erst einmal steure ich genüsslich und mit angemessener Vorsicht den gerade bezwungenen Mortirolo hinunter. Unten heil ankommen ist alles, denn dies ist die letzte Abfahrt des Tages im Rennen. Die Abfahrt vom Stelvio läuft dann schon außer Konkurrenz. Ich finde dieses Konzept mit dem Ziel oben am Berg super, weil absolut vernünftig. Jetzt also nichts mehr riskieren, denn dann erreiche ich mit Sicherheit auch das Ziel. Die Abfahrt läuft super glatt. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn man eine Vergleichbare Steigung auch für den Anstieg gewählt hätte. Aber wie beim Giro geht es wohl auch hier ein wenig um das Extreme, das ganz Außergewöhnliche, Heroische. Und eben das hatte die gewählte Variante der Auffahrt von bei Tovo di Sant’Agata ganz bestimmt. Man muss im Rennen nehmen was kommt. Das gilt für das Wetter, wie auch für die Straße, solange dabei keine Gefahr für Leib und Leben besteht.
Die Abfahrt nutze ich als dringend benötigte Pause und unten am Berg nehme ich auch die nächste Verpflegungsstelle gleich wieder mit. Trinken was das Zeug hält. So lautet jetzt das Motto, denn das Quecksilber kratzt jetzt kurz vor Mittag schon bedrohlich nahe an der 30 °C Marke. Wohl gemerkt: wir befinden uns noch auf 800 Höhenmetern. Beruhigend: es geht weiter nach oben. Es wird also mit Sicherheit von alleine kühler. Beunruhigend: eben, es geht noch sehr weit nach oben! Nämlich noch fast 2000 Höhenmeter auf 50 Kilometer. Und erst einmal heiß es jetzt wie beim Monopoly: „gehe zurück auf Los“. „Los“, das ist in diesem Fall gleichbedeutend mit „Bormio“. Gehen muss ich nicht, ich darf fahren. Aber da es immer leicht bergan geht, ziehen sich die Kilometer hoch auf 1400 Höhenmeter nach Bormio wie Kaugummi. Dieser erste Teil dieses Anstiegs nach Bormio ist wahrlich keine furchteinflößende Steigung. Aber die Straße steigt stetig an und bietet daher keine wirkliche Gelegenheit zur Erholung.
Erster Teilerfolg: als ich um 13 Uhr an der nächsten Verpflegungsstelle an der Via Crocefisso in Bormio eintreffe, besteht kein Zweifel mehr daran, dass ich das Zeitlimit von 14 Uhr für den ultimativen Anstieg zum Stelvio schaffen werde. Die Zeitnahme befindet sich nur etwas weiter oben im Ort. Also kein Problem. Erst noch einmal kurz nachtanken, den Kopf am Brunnen abkühlen und dann geht’s weiter. Noch ein verfehltes Zeitlimit am Stilfser Joch wäre aber auch schlimm gewesen. Erst 2014 hatte ich beim damaligen Rennen „Endura Alpentraum“ das Zeitlimit für den Anstieg zum Stilfser Joch via Umbrailpass um wenige Sekunden gerissen. Eine ähnliche Wiederholung wäre dann schon so eine Art „Stilfser Joch Trauma“ geworden. Heute ist alles paletti. Das Wetter ist fantastisch, die Kulisse auch und ich nehme gut gestärkt die letzte und längste Herausforderung des Tages an: den Stelvio. 1500 Höhenmeter von Bormio aus. Im Ort kann man zum letzten Mal entspannt Luft holen. Über die alte Steinbrücke „Ponte di Combo“ geht es durch das Zentrum von Bormio über die schöne Piazza Cavour vorbei am Torre Kuerc. Und dann beginnt in der Via della Vittoria auch schon der Anstieg noch im Ort. Bereits in der Via Monte Braulio noch innerhalb des Ortes kann ich erahnen, was gleich folgen wird. Die Zeitnahme startet am Übergang zwischen Via Monte Braulio und Via Stelvio.
Ich höre in mich hinein. Ich bin mir noch nicht 100 prozentig sicher, aber ich denke meinen ursprünglichen Plan am Stelvio dann mal Gas zu geben kann ich vergessen. Im Vorfeld hatte ich mir das so gedacht erst am Stelvio so richtig Gas zu geben. Der Plan war, den kleinen Teglio als Aufwärmübung zu fahren, sich am Mortirolo sehr zurückzuhalten und dann am Stelvio so richtig Gas zu geben. Soweit der Plan. Soweit die Theorie. Aber tatsächlich lief es bisher so, dass ich mich am Teglio schon ganz schön reinhängen musste und am Mortirolo bereits jede Menge Körner lassen musste, weil das Teil so unverschämt steil war. Und jetzt befinde ich mich hier am Einstieg zu Stelvio und… Anstatt nunnjede einzelne Kehre und jeden einzelnen der folgenden 20, zähen Kilometer zu schildern, möchte ich lieber kurz vom sogenannten „Alpe d’Huez Effekt“ erklären. Genau der stellt sich nämlich jetzt bei mir ein.
„Alpe d’Huez Effekt“? Was soll das denn sein? Ganz einfach: Wer schon einmal ganz puristisch von Bourg d’Oisans nur und alleine den Anstieg nach Alpe d’Huez gefahren ist, der wird sich vielleicht fragen was an diesem angeblich so mystischen Anstieg nun so toll oder schwierig sein soll. Klar, es geht 14 Kilometer den Berg hoch. Aber das alleine ist nicht wirklich etwas Besonderes. 14 Kilometer vergleichbaren Anstieg kann man in den Alpen an vielen Stellen auch so haben. Der Clou ist aber eben, dass man die Alpe d’Huez nie allein sehen darf, sondern immer im Kontext eines gesamten Rennverlaufs. 2006 beim „La Marmotte“ konnte ich das hautnahe erleben. Am Vortag des Rennens bin ich von Bourg d’Oisans entspannt nach Alpe d’Huez hochgeradelt und habe mir meine Startnummer abgeholt. Alles ganz easy. Am folgenden Tag beim Rennen sah das total anders aus. Es ging von Bourg d’Oisans über den Col de Lautaret, dann über den mächtigen Col du Galibier. Erst der finale Anstieg der Trilogie des Tages hieß dann Alpe d’Huez. Mit der Vorgeschichte „Lautaret / Galibier“ in den Beinen fühlte sich die Alpe dann vollkommen anders an. Es lief an diesem Tag damals für mich nicht zäh oder mühsam, auch wenn es unbeschreiblich heiß war. Aber 2006 war ich halt auch noch ein paar Tage jünger. Zudem gab es bei Alpe d’Huez teilweise Unmengen an Zuschauern. Für ein Jedermannrennen völlig ungewöhnlich. Auf jeden Fall aber lief es sicherlich nicht annähern so einfach wie am Vortag. Das ganze Renngeschehen zuvor – die Anstiege und die Hitze – hatten ihren Preis gefordert.
Heute am Stelvio ergeht es mir ähnlich wie damals, aber leider bin ich ein paar Tage älter und mir fehlt heute, an diesem Tag absolut die damalige Spritzigkeit. Das Wetter ist zwar bombastisch und ich kann mir keine besseren, äußeren Bedingungen für mein Rennen vorstellen, aber nach nur wenigen Kilometern hoch zum Joch ist die Luft bereits und ich kann nicht mehr beschleunigen – keine Chance. Und ganz im Gegenteil geht es bereits nach kurzem darum einfach nur noch durchzuhalten. Die imposanten, steil aufragenden Felswände, die Galerien, die beeindruckende Salve aus Spitzkehren, die rauschenden Gebirgsbäche und pfeifenden Murmeltiere erweisen sich in den nächsten beiden Stunden lediglich als bessere Statisten in einem erbitterten Kampf um jeden einzelnen Höhenmeter hinauf zum Ziel beim Gipfelhaus. Bereits 10 Kilometer vor dem Ziel gehe ich in den LkW-Modus: langsam und gleichmäßig robbe ich mich das Asphaltband nach oben und vermeide so gut es geht jede Beschleunigung. Eine einzige Beschleunigung könnte nämlich eine zu viel sein.
Meine Taktik geht auf. Nach schlappen 8 Stunde und 48 Minuten (Sekunden und zehntel Sekunden spare ich mir) rolle ich über die Ziellinie. Durchschnittsgeschwindigkeit 17,14 km/h. Unterirdisch! Aber auch so habe ich das Ziel erreicht – die Durchschnittsgeschwindigkeit ist mir im Moment aber auch so etwas von egal! Ich bin einfach nur froh und glücklich es geschafft zu haben. Einer der Helfer drückt mir das offizielle Finisher-Capi in die Hand. Und frägt mich dann, ob ich Lust auf ein Interview hätte. Von mir aus, solange ich dafür nicht noch einen Berg hochfahren muss. Ich werde vor eine Kamera von „Radio Number One“ platziert und so einfach mal loslegen. Ich lege los. Mir ist jetzt klar, wieso die Profis nach einem Wettkampf in den Interviews immer so einen Blödsinn reden. Wenn man so fertig und ausgelaugt ist kann man einfach nur noch Blödsinn reden. Das geht nicht anders. In so einem Moment unmittelbar nach einer solchen Anstrengung fehlen einem die Kraft, die Luft und der Verstand um auch nur etwas halbwegs Intelligentes zu sagen. Dementsprechend bin ich ein paar Tage später auch heilfroh, dass mein Beitrag in dem Zusammenschnitt des Radiosenders nicht dabei ist ?.
Epilog: Eine Cappuccino, ein Weißbier und zwei Stunden später verlasse ich die herrliche Sonnenterrasse auf der Passhöhe des Stelvio gut erholt und rolle hinunter nach Bormio. Und ich freue mich bereits auf eine kleine Tour und ein paar Höhenmeter als Apéritif nächsten Tag – und das ist immer ein gutes Zeichen.
Servus bis zur nächsten Challange oder Tour
Robert
Schnappschuss des Tages
Fotostrecke
Zusammenfassung
Streckenlänge: ca. 150 km
Höhendifferenz (Aufstieg): ca. 3980 m gemäß eigener Aufzeichnung
Durchschnittsgeschwindigkeit (mit Pause & Stops): ca. 16,8 km/h (laut Ergebnisliste 17,1 km/h)
Durchschnittsgeschwindigkeit (in Bewegung): 18,2 km/h
Nützliche Links
- Website Veranstalter / Anmeldung:
Granfondo Stelvio Santini
Strecke
herunterladen: Rechtsklick auf „Download“ unten und „Ziel speichern unter…“
Und dann hier noch mehr Daten (wen es interessiert)